Gerichtsstand des Erfüllungsortes im Vertriebsvertrag

Gerichtsstand des Erfüllungsortes und Klägergerichtsstand – Wo macht der österreichische Vertragshändler gegen seinen französischen Lieferanten den Ausgleichsanspruch geltend?

Zum Gerichtsstand hat der EuGH in seinem Urteil vom 14.7.2016, Rs C‑196/15, „Granarolo“ Folgendes bestätigt. Bei internationalen Vertriebsverträgen ist jener Ort, an dem der Vertragshändler tätig ist, als Erfüllungsort im Sinne des Art 7 Z 1 lit b EuGVVO anzusehen.

Dadurch wird dem Vertragshändler im Ergebnis häufig ein Klägergerichtsstand gewährt, sofern sich der Sitz seines Vertragspartners in einem EU-Mitgliedstaat befindet. Besonders relevant ist dies, wenn im Vertriebsvertrag keine Gerichtsstandvereinbarung enthalten oder die Gerichtsstandvereinbarung unwirksam ist.

Vor welchem Gericht kann etwa ein österreichischer Vertragshändler seinen Ausgleichsanspruch gegen einen französischen Lieferanten geltend machen, wenn der Vertrag keine wirksame Gerichtsstandvereinbarung enthält? Muss er in Frankreich klagen?

Unsere Annahme: Der österreichische Vertragshändler hat einen Ausgleichsanspruch gegen seinen französischen Lieferanten.

Wann ist diese Annahme begründet? Dazu mehr an anderer Stelle:

Gerichtsstand des Erfüllungsortes – Worum geht’s?

Die EuGVVO regelt u.a. die Frage, vor welchem Gericht eine Person mit Wohnsitz bzw. Sitz in einem anderen EU-Mitgliedstaat zu klagen ist, also den Gerichtsstand.

Demnach sind Personen grundsätzlich an ihrem Wohnsitz bzw. Sitz zu klagen (Art 4 Abs 1 EuGVVO). Das ist der allgemeine Gerichtsstand.

Für einen Vertragshändler, der von seinem ausländischen Vertragspartner Schadenersatz fordert oder einen Ausgleichsanspruch durchsetzen möchte, würde dies stets ein Gerichtsverfahren im Ausland bedeuten. Ein ausländischer Gerichtsstand ist insofern von Nachteil.

In Abweichung davon ermöglicht es Art 7 Z 1 EuGVVO, eine Person, die ihren Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaates hat, in einem anderen (insofern „fremden“) Mitgliedstaat zu verklagen. Und zwar u.a. vor dem Gericht jenes Ortes, an dem die Verpflichtung aus einem Vertrag erfüllt worden ist oder zu erfüllen wäre. Das ist der Gerichtsstand des Erfüllungsortes.

Kaufverträge und Dienstleistungsverträge einerseits …

Für Verträge über den Kauf beweglicher Sachen oder Dienstleistungen sieht Art 7 Z 1 lit b EuGVVO für den Gerichtsstand des Erfüllungsortes Besonderes vor:

  1. Diese Vertragstypen haben stets einen einheitlichen Erfüllungsort. Beim Kauf beweglicher Sachen ist dies der Ort der Lieferung. Und bei Dienstleistungen ist dies der Ort, an dem die Dienstleistungen erbracht worden sind oder hätten erbracht werden müssen.
  2. Einheitlich ist dieser Erfüllungsort insofern, als er für alle Verpflichtungen aus dem jeweiligen Vertragsverhältnis gilt (Simotta in Fasching, Zivilprozessgesetze V/1² EuGVVO Art 5 Rz 154).
  3. Somit begründet dieser einheitliche Erfüllungsort einen Gerichtsstand für sämtliche Ansprüche aus dem Vertrag. Es kommt zur Zuständigkeitskonzentration an jenem Ort, an dem die für den Vertragstyp charakteristische Leistung zu erbringen ist.
  4. Wo der jeweils geltend gemachte einzelne Anspruch konkret zu erfüllen gewesen wäre, spielt hingegen keine Rolle mehr: Jeder Kauf- bzw. Dienstleistungsvertrag kann nur einen einzigen einheitlichen Erfüllungsort gemäß Art 7 Z 1 lit b EuGVVO haben.
  5. Dieser Erfüllungsort ist verordnungsautonom, also unter ausschließlichem Rückgriff auf die EuGVVO und die Rechtsprechung des EuGH zu ermitteln. Wo sich der Erfüllungsort nach der lex fori (Recht des Staates des angerufenen Gerichts) oder der lex causae (auf das Vertragsverhältnis anwendbares Recht) befände, ist egal.

… und alle anderen Verträge andererseits

Hingegen ist bei allen anderen Vertragsverhältnissen immer nur der Erfüllungsort jener Verpflichtung entscheidend, die dem klagsweise begehrten Anspruch spiegelbildlich gegenüber steht. Vgl. dazu Buchstabe a) in Art 7 Z 1 EuGVVO.

Die Erfüllungsorte der einzelnen Ansprüche und Verpflichtungen aus dem Vertragsverhältnis werden somit in der Regel auseinanderfallen. Es gibt keinen einheitlichen Erfüllungsort und somit keine einheitlichen Gerichtsstand des Erfüllungsortes.

Es gibt noch einen zweiten Unterschied zum Kauf- oder Dienstleistungsvertrag. Und zwar ist der Begriff des Erfüllungsortes für den Gerichtsstand bei allen anderen Verträgen unter Rückgriff auf die lex causae zu bestimmen. Wo der Erfüllungsort für eine bestimmte Verpflichtung und somit dieser Gerichtsstand liegt, richtet sich also nach dem auf den Vertrag anwendbaren Recht. Der Erfüllungsort und der Gerichtsstand des Erfüllungsortes werden nicht verordnungsautonom bestimmt.

Vorfrage für den Gerichtsstand: Vertriebsvertrag als Kauf- oder Dienstleistungsvertrag?

Die Ausgangsfrage war, ob ein österreichischer Vertragshändler seinen Ausgleichsanspruch gegen einen französischen Lieferanten nur in Frankreich geltend machen kann. Ob also nur ein französischer Gerichtsstand in Frage kommt.

Für die Antwort ist nun wesentlich, wo der Erfüllungsort liegt. Weil der Gerichtsstand des Erfüllungsortes womöglich in Österreich liegt.

Dafür ist wiederum entscheidend, ob der zugrunde liegende Vertriebsvertrag als Vertrag über den Kauf beweglicher Sachen oder über Dienstleistungen einzuordnen ist.

Und genau darüber herrschte lange Zeit Unklarheit:

  • Vertreten wurde etwa (vgl. die zahlreichen Nachweise bei Simotta in Fasching, Zivilprozessgesetze V/1² EuGVVO Art 5 Rz 166), ein klassischer Händlervertrag könne nicht unter Buchstabe b) fallen, weil darin kein Kaufvertrag zu sehen sei. Denn der Händlervertrag als Rahmenvertrag begründe noch keine klassischen Käufer- und Verkäuferpflichten. Vielmehr würden diese erst durch die Bestellung von Vertragsprodukten begründet. Dies wird im Übrigen nach wie vor so gesehen (vgl. die Rn. 36 in EuGH 19.12.2013, Rs C-9/12 „Cormann-Collins“).
  • Auch könne ein Vertriebsvertrag nicht einfach als Dienstleistungsvertrag eingestuft werden (außer, die Dienstleistung „gebe ihm sein Gepräge“, vgl. die Nachweise bei Simotta in Fasching, Zivilprozessgesetze V/1² EuGVVO Art 5 Rz 176).
  • Konsequenz dieser Sichtweise war, dass sich der Erfüllungsort für die Geltendmachung des Ausgleichsanspruchs eines Vertragshändlers nach dem auf den Vertrag anwendbaren Recht bestimmte (Buchstabe a) in Art 7 Z 1 EuGVVO).
  • Und gerade der Erfüllungsort von Geldschulden kann je nach der auf den Vertrag anwendbaren Rechtsordnung (lex causae) auch am Ort des Schuldners liegen. In diesem Falle könnte der Vertragshändler aus der Möglichkeit, am Erfüllungsort zu klagen, keinen Nutzen ziehen. +
  • Für Österreich war dies etwa bis 15.3.2013 gemäß § 905 Abs 2 ABGB [alte Fassung] der Fall. Seit 16.3.2013 sind Geldschulden hingegen gemäß § 907a Abs 1 ABGB im Zweifel am Sitz des Gläubigers zu leisten.
  • Im Übrigen ist gerade bei Geldschulden die Vereinbarung eines Erfüllungsortes am Sitz des Lieferanten (Schuldners) leicht möglich.

Der EuGH lehnt diese Betrachtungsweise jedoch ab:

In seinem Urteil vom 19.12.2013, Rs C‑9/12, „Cormann-Collins“, hat er eine für europäische Vertragshändler mit ausländischem Lieferanten grundlegende Entscheidung getroffen. Er hat Vertriebsverträge als Verträge über Dienstleistungen unter den Buchstaben b) des Art 7 Z 1 EuGVVO subsumiert.

Die Argumentation im Einzelnen:

  • Es gäbe in der Geschäftspraxis zwar Unterschiede zwischen den einzelnen Vertriebsverträgen. Aber stets würden die in ihnen vorgesehenen Verpflichtungen am Zweck des Vertragstyps „Vertriebsvertrag“ anknüpfen. Dieser Zweck bestehe darin, den Vertrieb der Erzeugnisse zu gewährleisten. Dazu verpflichte sich der Lizenzgeber (Hersteller), dem Vertragshändler die Waren zu verkaufen, die Letzterer bestellt. Demgegenüber verpflichte sich der Vertragshändler, dem Lizenzgeber (Hersteller) die in Zukunft von ihm benötigten Waren abzukaufen (Rn. 27).
  • Im Recht der Mitgliedstaaten sei Folgendes anerkannt: Beim Vertriebsvertrag handle es sich um einen Rahmenvertrag. Dieser Rahmenvertrag regle die Beziehungen zwischen dem Lizenzgeber und dem Vertragshändler und ihre Liefer- und Bezugsverpflichtungen. Und dieser Rahmenvertrag bereite die nachfolgenden Kaufverträge vor (Rn. 28).
  • Ein Dienstleistungsvertrag liege vor, wenn eine Partei des Vertrages eine bestimmte Tätigkeit gegen Entgelt durchführe (EuGH 23.4.2009, Rs C‑533/07, „Falco Privatstiftung und Rabitsch“).
  • Beim Vertriebsvertrag schulde der Vertragshändler nun sehr wohl eine Dienstleistung. Und zwar die Mitwirkung an der Förderung der Verbreitung der Erzeugnisse des Lizenzgebers (Herstellers) durch die Gewährleistung des Vertriebs dieser Erzeugnisse. Dank der ihm nach dem Vertriebsvertrag zustehenden Beschaffungsgarantie und gegebenenfalls dank seiner Beteiligung an der Geschäftsstrategie des Lizenzgebers, insbesondere an Aktionen zur Absatzförderung – Umstände, deren Feststellung in die Zuständigkeit des nationalen Gerichts falle –, sei der Vertragshändler in der Lage, den Kunden Dienstleistungen und Vorteile zu bieten, die ein einfacher Wiederverkäufer nicht bieten kann, und somit in der Lage, für die Erzeugnisse des Lizenzgebers (Herstellers) einen größeren Anteil am lokalen Markt zu erobern (Rn. 38).
  • Laut EuGH liegt die Dienstleistung des Vertragshändlers somit in zwei Dingen. In der Mitwirkung an der Förderung der Verbreitung der Erzeugnisse des Lizenzgebers (Herstellers) und in der Eroberung eines größeren Marktanteils des Lizenzgebers.
  • Diese Dienstleistung werde gegen Entgelt erbracht, das allerdings nicht im engen Sinne als Zahlung eines Geldbetrags zu verstehen sei. Vielmehr bestehe das Entgelt in einem dem Vertragshändler gewährten Wettbewerbsvorteil. Denn er werde entweder überhaupt als einziger das Recht haben, die Erzeugnisse des Lizenzgebers in einem bestimmten Gebiet zu verkaufen. Oder aber er sei zumindest einer von mehreren auserwählten Vertragshändlern. Außerdem enthalte der Vertriebsvertrag oft auch zusätzliche Vorteile. Man denke etwa an den Zugang zu Werbematerial, die Vermittlung von Know-how durch Fortbildungsmaßnahmen oder auch Zahlungserleichterungen.
  • Aufgrund einer gegen Entgelt geschuldeten Dienstleistung liegt somit ein Dienstleistungsvertrag im Sinne des Art 7 Z 1 lit b EuGVVO vor.

Fast wortgleich wiederholt hat der EuGH diese Begründung im nun vorliegenden Urteil vom 14.7.2016, „Granarolo“. Auch dort wurde ein Vertriebsvertrag als Dienstleistungsvertrag qualifiziert. Die Rechtsprechung wurde dadurch gefestigt.

Der EuGH geht einen Schritt weiter: Stillschweigender Vertriebsvertrag

Darüber hinaus ist der EuGH in dieser Rechtssache („Granarolo“) einen Schritt weiter gegangen. Ein Vertriebsvertrag im oben dargelegten Sinne könne auch schlüssig und ohne schriftliche Vereinbarung zustande kommen.

Dabei spielen folgende Punkte eine Rolle:

  • Das Bestehen langjähriger Geschäftsbeziehungen sowie Treu und Glauben zwischen den Parteien.
  • Die Regelmäßigkeit der Transaktionen und deren in Menge und Wert ausgedrückte langfristige Entwicklung.
  • Etwaige Absprachen zu den in Rechnung gestellten Preisen und zu den gewährten Rabatten.
  • Die ausgetauschte Korrespondenz.

Im konkreten Fall hatte die französische Vertragshändlerin für die in Italien niedergelassene Herstellerin Granarolo seit ungefähr 25 Jahren ohne Rahmenvertrag oder Ausschließlichkeitsklausel Lebensmittel in Frankreich vermarktet.

Mangels schriftlicher Rahmenvereinbarung hat die italienische Herstellerin Folgendes behauptet.

  • Die vertraglichen Beziehungen hätten in bloßen Verträgen über den Kauf beweglicher Sachen bestanden.
  • Der Erfüllungsort wäre an ihrem Sitz in Bologna gelegen, weil die Lieferung „ex works“ vereinbart worden war.

Dem hat der EuGH entgegnet, dass offenbar ein Vertriebsvertrag vorliege, dessen Erfüllungsort sich nach dem Ort der Dienstleistung bestimme.

Der Fall offenbart eine wichtige praktische Konsequenz:

  • Bei Kaufverträgen hat eine Vereinbarung über den Erfüllungsort vor allem Bedeutung für zwei Aspekte. Für den Zeitpunkt des Gefahrenüberganges und für die Frage des Gerichtsstandes gemäß Art 7 Z 1 EuGVVO. Hingegen ändert sie am tatsächlichen Vorgang des Warenversands in aller Regel nichts.
  • Es liegt daher aus Sicht des Verkäufers von Waren nahe, den Erfüllungsort von Kaufverträgen durch entsprechende Vereinbarung an seinen Sitz zu „legen“.
  • Dies führt einerseits zu einem raschen Gefahrenübergang und andererseits dazu, dass sich der Gerichtsstand des Erfüllungsortes und der allgemeine Gerichtsstand des Herstellers decken.
  • Der ausländische Abnehmer hat dann mangels Anknüpfungspunkt in der EuGVVO keine Möglichkeit, an seinem Sitz zu klagen.
  • Bei Dienstleistungsverträgen hat der Erfüllungsort hingegen vor allem für den tatsächlichen Ort der Leistungserbringung Bedeutung.
  • Hier ist ein „Verlegen“ des Erfüllungsortes an den Sitz des Herstellers durch Vereinbarung in aller Regel nicht möglich. Denn die Dienstleistung soll ja am Sitz des Dienstleisters (hier: des Vertragshändlers) erbracht werden.
  • Insofern stärkt die Einstufung des Vertriebsvertrags als Dienstleistungsvertrag und die ausdrückliche Ablehnung der Einstufung als Kaufvertrag die Position der Vertragshändler.

Letzter Schritt für den Gerichtsstand: Wo ist der Ort der Dienstleistung?

Nach der Einordnung als Dienstleistungsvertrag stellt sich nur noch eine Frage. An welchem Ort musst der Vertragshändler seine Dienstleistung denn erbringen?

In aller Regel wird dies jener Ort sein, an dem er seinen Sitz hat. Denn von dort aus wird er seine Anstrengungen zur Eroberung eines höheren Marktanteils unternehmen müssen. Und von dort aus wird er an der Förderung der Verbreitung der Erzeugnisse des Lizenzgebers (Herstellers) mitwirken müssen.

Am Sitz des Vertragshändlers konzentriert sich somit seine Tätigkeit. Das ihm vertraglich zugewiesene Verkaufsgebiet mag deutlich größer sein und manchmal sogar das gesamte Gebiet eines Mitgliedstaates umfassen.

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