Exklusives Vertriebssystem von MERCK: Marktabgrenzung als Schlüssel zur Freistellung

BGH, Beschluss vom 26.1.2016, KVR 11/15 – „Laborchemikalien“

Vertriebsvereinbarungen, die Wettbewerbsbeschränkungen enthalten und deshalb unter das Kartellverbot fallen, werden von der Vertikal-Gruppenfreistellungsverordnung (Vertikal-GVO) vom Kartellverbot freigestellt und sind somit trotz der enthaltenen Wettbewerbsbeschränkung zulässig und wirksam, sofern sie keine der in Art 4 Vertikal-GVO genannten, als besonders schädlich angesehenen Vertragsklauseln („Kernbeschränkungen“) enthalten.

Jedoch sieht Art 3 Abs 1 der geltenden Vertikal-GVO 2010 (wie schon Art 3 Abs 1 der Vorläuferin Vertikal-GVO 1999) vor, dass die GVO u.a. nur dann anwendbar ist, wenn der Marktanteil des Anbieters (Herstellers) am relevanten Markt 30% nicht überschreitet. Wie in allen Teilbereichen des Kartellrechts stellt sich somit auch im Vertriebskartellrecht regelmäßig die Frage nach der Abgrenzung des relevanten Marktes. Diese Marktabgrenzung kann darüber entscheiden, ob eine wettbewerbsbeschränkende Klausel wirksam und zulässig ist oder aber nichtig und überdies Grundlage für Geldbußen und Schadenersatzforderungen. Am folgenden Fall wird dies deutlich:

MERCK hatte für den Vertrieb von Laborchemikalien in Deutschland einen Alleinvertriebsvertrag mit einer Vertriebsgesellschaft abgeschlossen (Exklusivvertrieb). Das Bundeskartellamt hatte MERCK aufgetragen, die Durchführung dieser als kartellrechtswidrig qualifizierten Vereinbarung abzustellen. Dagegen beschritt MERCK den Rechtsweg.

 

Exklusivvertrieb als Wettbewerbsbeschränkung

Der Exklusivvertrieb an sich ist in der Regel eine bezweckte Wettbewerbsbeschränkung (vgl Nolte in Langen/Bunte, Kartellrecht II, 12. Auflage, Nach Art. 101 AEUV Rn 485), im gegenständlichen Fall waren wettbewerbsbeschränkende Auswirkungen erwiesen: Die Labore und andere Endabnehmer waren gezwungen, ihren Bedarf bei der Vertriebsgesellschaft zu decken. MERCK war es untersagt, andere Händler oder Endabnehmer direkt zu beliefern. Die Alleinvertriebsvereinbarung fiel daher unter das Kartellverbot (Beschluss, Rn 19).

 

Freistellung durch die Vertikal-GVO?

Mangels Einzelfreistellung nach Art 101 Abs 3 AEUV war entscheidungswesentlich, ob die wettbewerbsbeschränkende Alleinvertriebsvereinbarung durch die Vertikal-GVO vom Kartellverbot freigestellt war.

Die Vertikal-GVO stellt den Exklusivvertrieb grundsätzlich vom Kartellverbot frei: Solange jedem Exklusivhändler zumindest Passivverkäufe in fremde Gebiete bzw. an fremde Kundengruppen erlaubt bleiben, handelt es sich bei der Gebiets- bzw. Kundenbeschränkung, die mit dem Exklusivvertrieb einher geht, um keine Kernbeschränkung (Art 4 lit b [i] Vertikal-GVO).

Grundvoraussetzung ist aber freilich, dass die Vertikal-GVO überhaupt anwendbar ist. Und  diese Anwendbarkeit setzt – wie bereits eingangs erwähnt – u.a. voraus, dass der Anbieter auf dem relevanten Markt einen Marktanteil von 30% nicht überschreitet (Art 3 Abs 1 Vertikal-GVO).

 

Marktanteil als Folge der Marktabgrenzung

Im vorliegenden Fall hatten sowohl das Bundeskartellamt als auch das Beschwerdegericht MERCK einen Marktanteil von über 30% attestiert, die Vertikal-GVO deshalb nicht zur Anwendung gebracht und die Alleinvertriebsvereinbarung als kartellrechtswidrig, weil wettbewerbsbeschränkend und nicht freigestellt, eingestuft. Die Konsequenz war der erwähnte Abstellungsauftrag durch das Bundeskartellamt.

Vor dem BGH machte MERCK nun geltend, dass auch die Verkäufe anderer Laborchemikalienhersteller an Endabnehmer vom relevanten Markt umfasst seien, sodass ein deutlich umfassenderer Markt für Laborchemikalien abzugrenzen sei, auf dem der Marktanteil von MERCK die 30%-Schwelle des Art 3 Abs 1 Vertikal-GVO nicht überschreite.

Der BGH wies diese Argumentation zurück, und zwar mit der folgenden – zutreffenden – Begründung (Beschluss, Rn 36 und 37):

  • Der relevante Markt gemäß Art 3 Abs 1 Vertikal-GVO ist jener, auf dem sich der Anbieter und der Abnehmer gegenüber stehen. Das sind im konkreten Fall MERCK und die Vertriebsgesellschaft.
  • Nach dem Bedarfsmarktkonzept ist bei der Abgrenzung dieses relevanten Marktes entscheidend, inwieweit die Vertriebsgesellschaft als Nachfrager eine Substitutionsmöglichkeit für den Fall hat, dass MERCK die Preise erhöht.
  • Der BGH führt in diesem Zusammenhang völlig richtig aus, dass jene Hersteller, die ihre Laborchemikalien nur direkt an Endabnehmer vertreiben, für die Vertriebsgesellschaft keine Bezugsalternative darstellen.
  • Aus diesem Grunde ist ein vom BGH als solcher bezeichneter „Handelsmarkt“ für Laborchemikalien abzugrenzen, auf dem nur jene Hersteller als Anbieter tätig sind, die tatsächlich auch Händler – und nicht nur Endabnehmer – beliefern.
  • Da auf diesem Handelsmarkt der festgestellte Marktanteil von MERCK die Schwelle von 30% übersteigt, ist die Vertikal-GVO tatsächlich nicht anwendbar und die Beschwerde von MERCK unbegründet.
  • Neben diesem Handelsmarkt ist ein Endkundenmarkt abzugrenzen, auf dem sich auf Anbieterseite all jene Hersteller und Händler (so auch die von MERCK belieferte Vertriebsgesellschaft) als Wettbewerber gegenüberstehen, die Endabnehmer beliefern.

 

Ergebnis

Bei der Abgrenzung des relevanten Marktes zur Berechnung des Marktanteils gemäß Art 3 Abs 1 Vertikal-GVO ist ausschließlich jener „Handelsmarkt“ relevant, auf dem sich Hersteller und Händler gegenüber stehen.

Soweit sich einzelne Hersteller (bzw. Anbieter) darauf beschränken, Endabnehmer direkt zu beliefern, sind sie auf diesem für Art 3 Abs 1 Vertikal-GVO allein relevanten „Handelsmarkt“ nicht aktiv und insofern keine Bezugsalternative für die auf dem „Handelsmarkt“ als Nachfrager auftretenden Händler. Solche Hersteller (bzw. Anbieter) müssen daher bei der Frage, ob der Marktanteil des jeweiligen Anbieters die Schwelle von 30% überschreitet, außer Betracht bleiben.

Dieses vom BGH ausführlich begründete Ergebnis ist nicht nur rechtsdogmatisch richtig, sondern auch sachgerecht. Schließlich liegt der Zweck der 30%-Schwelle darin, allzu dominante Hersteller (bzw. Anbieter) nicht in den Genuss der Vertikal-GVO kommen zu lassen. Unter „Dominanz“ ist dabei die Dominanz den Händlern (und nicht den Endabnehmern) gegenüber zu verstehen. Eine solche Dominanz beruht in aller Regel auf fehlenden Bezugsalternativen der Händler. Nur darauf kann es ankommen.

 

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