Jahrelang stand es in der Kfz-Branche außer Frage und ist daher den beteiligten Unternehmen geläufig: Während ein Kfz-Händler keinen Anspruch gegen den Hersteller/Generalimporteur von Fahrzeugen einer bestimmten Marke auf Zulassung als Vertragshändler (also auf Abschluss eines Händlervertrages) hat, kann eine Kfz-Werkstatt die Zulassung als Vertragswerkstatt (also den Abschluss eines Werkstattvertrages) verlangen, sofern sie die vom Hersteller/Generalimporteur vorgegebenen und objektiv gerechtfertigten qualitativen Mindeststandards erfüllt.
Dieser Beitrag ruft die wettbewerbsrechtlichen Hintergründe für diese Divergenz in Erinnerung und legt damit den Grundstein für die in einem gesonderten Beitrag erfolgende Untersuchung, inwieweit diese unterschiedliche Behandlung gerechtfertigt ist.
Quantitativ selektiver Vertrieb
Der Vertrieb von Neufahrzeugen wird von den Herstellern/Generalimporteuren in der Regel über ein quantitativ‑selektives Vertriebsnetz organisiert. Dies entspricht auch der in der restlichen Europäischen Union vorrangig gelebten Vertriebspraxis.
Ein selektives Vertriebssystem liegt vor, wenn sich der Generalimporteur verpflichtet, die Vertragswaren nur an bestimmte Händler zu veräußern und sich zweitens auch die teilnehmenden Händler verpflichten, die Vertragswaren nicht an gewerbliche Wiederverkäufer außerhalb des selektiven Vertriebsnetzes zu veräußern (Artikel 1 Abs 1 lit e Vertikal-GVO Nr. 330/2010).
„Quantitativ-selektiv“ bedeutet dabei, dass der Generalimporteur neben gewissen Mindestanforderungen („Standards“) auch die Anzahl an Vertragshändlern ausdrücklich oder zumindest unmittelbar, etwa durch Mindestumsätze, begrenzt (vgl die Leitlinien der Kommission für vertikale Beschränkungen, 2010/C 130/01, in der Folge „Vertikal-LL“, Rn 175). Dabei hat der Generalimporteur auch bei der Auswahl der Händler völlig freie Hand (EuGH 14.6.2010, Rs C-158/11 „Jaguar Land Rover“; Nolte in Langen/Bunte, Kartellrecht II12 Nach Art. 101 AEUV Rn 520).
Bereits die quantitative Selektion an sich ist wettbewerbsbeschränkend im Sinne des Art 101 AEUV: Der intra-brand Wettbewerb wird durch die unmittelbare und willkürliche Begrenzung der Vertragshändler beeinträchtigt. Hinzu kommt, dass in Kfz-Händlerverträgen regelmäßig noch weitere wettbewerbsbeschränkende Bestimmungen enthalten sind, wie etwa Wettbewerbsverbote oder Höchstverkaufspreise.
Freistellung durch die Vertikal-GVO
Die Vertikal-GVO stellt vertikale Wettbewerbsbeschränkungen in Händlerverträgen, die im Rahmen eines quantitativ-selektiven Vertriebssystems abgeschlossen werden, unter gewissen Voraussetzungen vom Kartellverbot des Art 101 Abs 1 AEUV frei (Art 2 Abs 1 Vertikal-GVO): Neben dem Verbot bestimmter Kernbeschränkungen, die von der Europäischen Kommission als für den Wettbewerb besonders schädlich eingestuft werden, ist die Grundvoraussetzung, dass sowohl der Anbieter (Hersteller/Generalimporteur) als auch der Abnehmer (Händler) auf jenem Markt, auf dem sie sich gegenüberstehen, einen Marktanteil von nicht mehr als 30% haben (Art 3 Abs 1 Vertikal-GVO).
Entscheidend für die Anwendbarkeit der Vertikal-GVO und damit für die Frage, ob quantitative Selektion zulässig sein kann, ist also die Marktabgrenzung und insofern die Substituierbarkeit aus Sicht der Abnehmer (sog. Bedarfsmarktkonzept, dazu etwa Vartian in Petsche/Urlesberger/Vartian, KartG § 4 Rz 23 ff). Das sind im gegenständlichen Fall die Händler, und nicht die Endkunden. Wenngleich die Präferenzen der Endverbraucher gerade beim Vertrieb von Endprodukten (wie etwa Neufahrzeugen) häufig bestimmen, welche Produkte die Händler noch als Substitute ansehen (so auch Vertikal-LL, Rn 89 Satz 5), so entscheiden sich die Händler doch nicht für einzelne Fahrzeuge einer bestimmten Kfz-Marke, sondern typischerweise für die ganze Produktpalette dieser Kfz-Marke, sodass die Produktpaletten der verschiedenen Generalimporteure aus Sicht der Händler Substitute bilden (Vertikal-LL, Rn 89 Satz 9). Das führt im Bereich des Neuwagenvertriebs zu einer markenübergreifenden Marktabgrenzung und zu Marktanteilen von regelmäßig unter 30% auch auf Seiten des Generalimporteurs. Die Vertikal-GVO ist daher auf den Vertrieb von Neufahrzeugen sämtlicher Kfz-Marken anwendbar und ein quantitativ selektives Vertriebssystem insoweit nicht kartellrechtswidrig.
Zentrale Erkenntnis: Die Kfz-Händler sehen die Produktpaletten der Kfz-Hersteller als untereinander substituierbar an. Konsequenzen sind die markenübergreifende Marktabgrenzung, Marktanteile von durchwegs unter 30% und somit die Freistellung der Händlerverträge durch die Vertikal-GVO.
Kfz-Anschlussmarkt („Aftersales“, Werkstattgeschäft)
Wie bei allen langlebigen Gebrauchsgütern bildet der Ersatzteilvertrieb und die Erbringung von Kundendienst (Wartung und Reparatur) an Fahrzeugen einen eigenen, vom Fahrzeugvertrieb selbst getrennten Markt, den sog. Kfz-Anschlussmarkt (Ergänzende Leitlinien der Kommission für vertikale Beschränkungen im Kraftfahrzeugbereich, 2010/C 138/05, in der Folge „Kfz-Leitlinien“, Rn 57 Fn 1). Hauptmerkmal eines Anschlussmarktes ist, dass die meisten Endverbraucher durch den vorangegangenen Erwerb des Gebrauchsgutes in ihrer Entscheidungsfreiheit bei den Ersatzteilen und beim Kundendienst zumindest eingeschränkt sind.
Für die Frage, ob die Vertikal-GVO anwendbar ist, sind auch im Kfz-Anschlussmarkt die Marktanteile relevant (Art 4 Kfz-GVO Nr. 461/2010 iVm Art 3 Abs 1 Vertikal-GVO). Bei der erforderlichen Marktabgrenzung wäre konsequenterweise wieder auf jenen Markt abzustellen, auf dem sich die Werkstätten und der Hersteller/Generalimporteur gegenüberstehen (anders insoweit noch Art 3 Abs 1 iVm Art 8 lit c der „Vorläuferin“ Kfz-GVO 1400/2002). Es ist bemerkenswert, dass die Kommission demgegenüber ausschließlich auf die Präferenzen der Endverbraucher abstellt: Da der Besitzer eines Fahrzeugs einer bestimmten Marke vorrangig an jenen Ersatzeilen und Kundendienstleistungen interessiert ist, die seine Marke betreffen, wird die Substituierbarkeit der von den verschiedenen Generalimporteuren am Anschlussmarkt angebotenen Leistungen verneint. Auf diesem Wege gelangt die Kommission zu einer markenspezifischen Abgrenzung der Kfz-Anschlussmärkte (Vertikal-LL, Rn 15, 39 und 57 Fn 1): Jeder Generalimporteur erreicht einen Marktanteil von deutlich über 30%.
Bei der Abgrenzung des Kfz-Anschlussmarktes stellt die Europäische Kommission nicht mehr auf „Produktpaletten“ ab, die aus Sicht der unmittelbaren Abnehmer (Werkstätten) womöglich untereinander substituierbar sein können, sondern betont die fehlende Ausweichmöglichkeit für die Endverbraucher.
Konsequenterweise erachtet die Kommission auf der Grundlage dieser markenspezifischen Marktabgrenzung die Vertikal-GVO und die Kfz-GVO im Aftersales-Bereich für nicht anwendbar. Die mit quantitativ selektivem Vertrieb verbundenen Wettbewerbsbeschränkungen sind daher mangels Freistellung durch eine GVO kartellrechtswidrig, sofern nicht (unter Inkaufnahme der damit verbundenen Risiken) eine Individualfreistellung nach Art 101 Abs 3 AEUV ins Treffen geführt wird.
Daraus schließt die Kommission, dass für Generalimporteure im Aftersales-Bereich in der Regel kein quantitativer, sondern nur ein qualitativer Selektivvertrieb in Frage kommt (Nolte in Langen/Bunte, Kartellrecht II12 Nach Art. 101 AEUV Rn 939). Der qualitative Selektivvertrieb hat gegenüber dem quantitativen Selektivvertrieb nämlich den Vorteil, dass er schon nicht als wettbewerbsbeschränkend im Sinne des Art 101 Abs 1 AEUV anzusehen ist, sofern die folgenden drei Voraussetzungen erfüllt sind (Vertikal-LL, Rn 175):
- Die Beschaffenheit des fraglichen Produkts muss einen selektiven Vertrieb bedingen, d.h. ein solches Vertriebssystem muss ein rechtmäßiges Erfordernis zur Wahrung der Qualität und zur Gewährleistung des richtigen Gebrauchs des betreffenden Produkts sein.
- Die Wiederverkäufer müssen aufgrund objektiver Kriterien qualitativer Art ausgewählt werden, die einheitlich festzulegen, allen potenziellen Wiederverkäufern zur Verfügung zu stellen und unterschiedslos anzuwenden sind.
- Die aufgestellten Kriterien dürfen nicht über das hinausgehen, was erforderlich ist.
Der qualitative Selektivvertrieb ist regelmäßig nicht wettbewerbsbeschränkend, wenn das Wesen des vertriebenen Produktes die qualitative Selektion rechtfertigt und nur notwendige Selektionskriterien ohne Diskriminierung angewendet werden (Vertikal-LL, Rn 175).
Folgen einer Diskriminierung
Falls eine der drei Voraussetzungen nicht erfüllt ist, liegt kein qualitativer Selektivvertrieb mehr vor. Insbesondere führt eine sachlich nicht gerechtfertigte Verweigerung des Vertragsabschlusses dazu, dass das Vertriebssystem nicht mehr als qualitativ selektiv, sondern als quantitativ selektiv und somit als wettbewerbsbeschränkend angesehen wird. Die Kriterien werden dann nämlich nicht unterschiedslos angewendet.
In einem solchen Falle wird der Hersteller/Generalimporteur zwar argumentieren, dass keine wettbewerbsbeschränkende „Vereinbarung zwischen Unternehmen oder abgestimmte Verhaltensweise“ nach Art 101 Abs 1 AEUV vorliege, sondern bloß ein einseitiges Verhalten, nämlich die Weigerung, einen Vertrag abzuschließen, woraus nicht geschlossen werden könne, dass die abgeschlossenen Werkstattverträge, die in der Regel ja keine Wettbewerbsbeschränkungen enthalten, kartellrechtswidrig sind.
Dem hält der EuGH allerdings entgegen, dass es für einen Kartellrechtsverstoß des Generalimporteurs gar nicht notwendig ist, dass die einzelnen Verträge wettbewerbsbeschränkende Bestimmungen enthalten: Der EuGH unterstellt nämlich, dass die zugelassenen Vertriebspartner (Werkstätten) der vom Generalimporteur praktizierten Diskriminierung der abgewiesenen potenziellen Vertriebspartner zumindest schlüssig zustimmen, weshalb Art 101 AEUV sehr wohl einschlägig sei (EuGH 25.10.1983, Rs C-107/82 „AEG“, Rn 38).
Man beachte den bemerkenswerten Kunstgriff des EuGH: Einem Werkstattvertrag, der selbst keine Wettbewerbsbeschränkung enthält, wird unterstellt, dass ihm stillschweigend die wettbewerbsbeschränkende Vereinbarung zugrunde liegt, dass der Hersteller einzelne Werkstätten diskriminieren wird. Insbesondere in Einzelfällen, die sich erst Jahre nach dem Vertragsabschluss ereignen, muss diese Argumentation verwundern.
Mangels Freistellung aufgrund des Marktanteils von über 30% (als Folge der markenspezifischen Marktabgrenzung) verstößt daher ein Generalimporteur, der potenzielle Vertriebspartner im Rahmen eines qualitativ selektiven Vertriebssystems ohne sachliche Rechtfertigung diskriminiert, nach Ansicht des EuGH gegen das Kartellverbot des Art 101 Abs 1 AEUV und setzt sich dadurch der Gefahr hoher Geldbußen aus. Schon um dies zu vermeiden, müssen all jene Hersteller/Generalimporteure, die vorsichtsweise von der markenspezifischen Abgrenzung der Kfz-Anschlussmärkte durch die Kommission ausgehen, mit all jenen Werkstätten einen Werkstattvertrag abschließen, die darum ansuchen und die objektiv gerechtfertigten Mindestanforderungen (Standards) erfüllen.
Insoweit besteht aus Sicht der Generalimporteure tatsächlich ein Kontrahierungszwang im Aftersales-Bereich: Ein Generalimporteur, der den Abschluss eines Werkstattvertrages ohne sachliche Rechtfertigung verweigert, riskiert ein Bußgeldverfahren der Kommission. Diese Form des Kontrahierungszwanges ist freilich „indirekt“: Der Kontrahierungszwang ist die praktische Konsequenz daraus, dass andernfalls eine Verfahren wegen eines Verstoßes gegen das Kartellverbot des Art 101 Abs 1 AEUV droht.
Was kann die Werkstatt selbst unternehmen?
Ein Verstoß des Herstellers/Generalimporteurs gegen Art 101 Abs 1 AEUV durch grundlose Verweigerung eines Werkstattvertrags kann freilich einen „direkten“, vor einem nationalen Gericht durchsetzbaren Anspruch auf Abschluss eines Werkstattvertrages nicht begründen, weil es dem Kartellverbot des Art 101 AEUV an einer unmittelbaren und zwingenden zivilrechtlichen Wirkung mangelt (OGH 4 Ob 119/09t mit ausführlicher Begründung; OGH 3 Ob 33/13v).
Ein Anspruch könnte sich allerdings aus einem Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung ergeben: Schließlich führt die markenspezifische Abgrenzung der Kfz-Anschlussmärkte dazu, dass die Generalimporteure „ihren“ Kfz-Anschlussmarkt jeweils beherrschen (§ 4 KartG bzw Art 102 AEUV) und eine grundlose Verweigerung des Vertragsabschlusses als Missbrauch dieser marktbeherrschenden Stellung zu qualifizieren wäre. Opfer dieses Missbrauchs wäre jene Werkstatt, die erfolglos um Zulassung als Vertragswerkstatt angesucht hat, sodass sie gerichtlich gegen diesen Missbrauch vorgehen und auf diesem Wege den Abschluss eines Werkstattvertrages erzwingen könnte.
Die Antworten auf die von der Kommission in den Vertikal-LL und Kfz-LL erörterte Frage der Kartellrechtskonformität eines selektiven Vertriebssystems trotz Weigerung, mit allen Werkstätten Verträge abzuschließen, und die Antworten auf die von nationalen Gerichten überwiegend zu beantwortende Frage, ob Werkstätten einen klagbaren Anspruch auf Zulassung als Vertragswerkstatt haben, verlaufen daher parallel: Beide Antworten hängen u.a. vom Marktanteil des Herstellers/Generalimporteurs und daher von der Abgrenzung des relevanten Marktes ab.
Ergebnis aus Sicht der Kommission
Wenn wir mit der Europäischen Kommission den Kfz-Anschlussmarkt im Verhältnis Hersteller-Werkstätten markenspezifisch abgrenzen, dann müssen wir davon ausgehen, dass der Hersteller diesen Markt beherrscht und eine Werkstatt die grundlose Verweigerung eines Vertragsabschlusses vor Gericht als Missbrauch dieser marktbeherrschenden Stellung bekämpfen kann, indem die Werkstatt den Hersteller auf Abschluss eines Werkstattvertrages klagt.
Gleichzeitig müssen wir davon ausgehen, dass eine solche grundlose Weigerung dazu führt, dass alle bestehenden Werkstattverträge ungeachtet ihre Inhalts als kartellrechtswidrig angesehen werden (EuGH 25.10.1983, Rs C-107/82 [„AEG“], Rn 38).
Klare Handlungsanleitung: Den Kfz-Anschlussmarkt im Zweifel markenspezifisch abgrenzen und Werkstattverträge nicht grundlos verweigern.
Aus Sicht der Hersteller und Generalimporteure ist es im Hinblick auf die drohenden Geldbußen riskant, ohne konkreten Anlass von der diesen Ergebnissen zugrunde liegenden Rechtsmeinung der Kommission zur Marktabgrenzung im Kfz-Anschlussmarkt abzuweichen. Dennoch wird es regelmäßig Situationen geben, insbesondere vor Gerichten, in denen ein Hersteller/Generalimporteur Interesse daran hat, die markenspezifische Marktabgrenzung der Kommission zu widerlegen. Wie dies gelingen kann, wird an anderer Stelle gezeigt.