Lehnt sich die Europäische Kommission zum Plattformverbot in ihrer Stellungnahme zum E-Commerce aus dem Fenster?
Dieser Blog hat sich bereits mehrfach dem Plattformverbot in Vertriebsverträgen gewidmet.
Dabei geht es um die Frage, ob ein Hersteller seinen Vertragshändlern untersagen darf, die Vertragsprodukte über Plattformen wie den Amazon Marketplace zu vertreiben. Eine ausführliche Erörterung der Rechtfertigungsgründe für ein Plattformverbot im Selektivvertrieb ist hier abrufbar. Derzeit ist beim EuGH ein Vorabentscheidungsverfahren („Coty Germany“) anhängig.
Die Europäische Kommission hat am 10. Mai 2017 ihren „Abschlussbericht über die Sektoruntersuchung zum elektronischen Handel“ erstattet. Dieser enthält zahlreiche interessante Aussagen und Erkenntnisse zum E-Commerce. Der vorliegende Beitrag widmet sich aber ausschließlich den Bemerkungen zum Plattformverbot.
Ergebnisse der Befragung als Ausgangspunkt für die Überlegung der Kommission zum Plattformverbot
Die Kommission verweist zunächst darauf, dass es eines der Ziele der Sektoruntersuchung war, die Verbreitung und die Merkmale von Marktplatzbeschränkungen und die Bedeutung von Marktplätzen als Verkaufskanal für Einzelhändler und Hersteller besser zu verstehen (Rn. 38). U.a. zu diesem Zweck wurden zwischen Juni 2015 und März 2016 Fragebögen u.a. an über 1000 Einzelhändler versandt (Rn. 5 des Abschlussberichtes). Diese Befragung der Einzelhändler hat Folgendes ergeben (Rn. 39 und 40):- Mehr als 90% der befragten Einzelhändler nutzen ihren eigenen Online-Shop für den Online-Verkauf. 31% der befragten Einzelhändler nutzen zusätzlich Marktplätze (Drittplattformen), nur 4% der befragten Einzelhändler nutzen ausschließlich Marktplätze.
- Die Nutzung der Marktplätze hat mit der Zeit zugenommen.
- Der Anteil an Marktplätze nutzenden Einzelhändlern variiert je nach Mitgliedstaat erheblich (Deutschland: 62%; UK: 43%; Italien: 13%; Belgien: 4%).
- Je kleiner der Einzelhändler, desto größer die Bedeutung der Marktplatznutzung für ihn und desto höher der Anteil der über einen Marktplatz verkauften Waren an den online verkauften Waren.
- 18% der befragten Einzelhändler berichten von vertraglich auferlegten Marktplatzbeschränkungen, in Deutschland beträgt dieser Anteil 32% und ist damit im Mitgliedstaatenvergleich unübertroffen.
Schlussfolgerungen der Kommission zum Plattformverbot
Die von der Kommission aus diesen Erkenntnissen gezogenen Schlüsse verdienen es, zitiert zu werden. Der Fettdruck in den Zitaten stammt von mir.(41) Die Sektoruntersuchung zum elektronischen Handel zeigt, dass die Bedeutung von Marktplätzen als Verkaufskanal je nach der Größe der Einzelhändler, nach Mitgliedstaat und nach Produktkategorie deutlich variiert. Aus diesem Grund lassen die Ergebnisse darauf schließen, dass Marktplatzverbote nicht grundsätzlich zu einem De-facto-Verbot des Online-Verkaufs führen oder die effektive Nutzung des Internets als Verkaufskanal unabhängig von den betroffenen Märkten beschränken. Die Sektoruntersuchung zeigt auch, dass sich die von den Herstellern genannten potenziellen Rechtfertigungsgründe und Effizienzsteigerungen je nach Produkt unterscheiden.
(42) Als Folge dessen zeigen die Ergebnisse der Sektoruntersuchung – unbeschadet der anhängigen Vorabentscheidungsvorlage –, dass (absolute) Marktplatzverbote nicht als Kernbeschränkungen im Sinne von Artikel 4 Buchstabe b und Artikel 4 Buchstabe c der Gruppenfreistellungsverordnung für Vertikalvereinbarungen angesehen werden sollten.
(43) Das bedeutet nicht, dass absolute Marktplatzverbote generell mit den EU-Wettbewerbsregeln im Einklang sind. Die Kommission oder eine nationale Wettbewerbsbehörde kann in besonderen Fällen entscheiden, den Rechtsvorteil der Gruppenfreistellungsverordnung zu entziehen, wenn dies durch die Marktsituation gerechtfertigt ist.
Was bedeuten diese Aussagen der Kommission zum Plattformverbot?
Es folgt nun ein Versuch, diese Ergebnisse der Kommission einzuordnen:- Die Kommission vertritt die Ansicht, dass ein absolutes Verbot von Drittplattformen nicht als Kernbeschränkung gemäß Artikel 4 Vertikal-GVO angesehen werden sollte. Damit bezieht sie in dieser höchst umstrittenen Frage, zu deren Lösung ein Vorabentscheidungsverfahren beim EuGH anhängig ist (!), überraschend eindeutig Position.
- Die Kommission begründet dies nicht etwa mit einer Prüfung der einzelnen Kernbeschränkungstatbestände (Buchstabe b und c des Artikel 4), sondern mit folgender Beobachtung: Die Bedeutung von Marktplätzen variiere deutlich (Rn. 41). Daher würden Marktplatzverbote „nicht grundsätzlich zu einem De-facto-Verbot des Online Verkaufs führen oder die effektive Nutzung des Internets als Verkaufskanal … beschränken.“
- Mit anderen Worten: Ein absolutes Marktplatzverbot lasse dem Händler noch ausreichend alternative Möglichkeiten zum Online-Vertrieb. Deshalb liege darin keine Kernbeschränkung.
- Diese Argumentation ist zumindest bemerkenswert. Denn auf die Tatbestandsmerkmale der Kernbeschränkungstatbestände wird nicht eingegangen.
- Gleichzeitig verweist die Kommission auf die Möglichkeit, dass der Europäische Gerichtshof dies womöglich anders beurteilen wird (Rn. 42: „unbeschadet der anhängigen Vorabentscheidungsvorlage“).