Zur Spürbarkeit einer bezweckten Wettbewerbsbeschränkung – EuGH „ING Pensii“

EuGH, Urt. v. 16.7.2015, C-172/14 – „ING Pensii“

Im seinem Urteil in der Rechtssache „Expedia“ vom 13.12.2012, Rn. 37, hat der EuGH festgehalten, dass eine Vereinbarung mit wettbewerbswidrigem Zweck ihrer Natur nach und unabhängig von ihren konkreten Auswirkungen eine spürbare Beschränkung des Wettbewerbs darstellt.

Für die vertriebsrechtliche Praxis hat dieser eindeutige Maßstab erhebliche Bedeutung. Denn zumindest bei in Vertriebsverträgen enthaltenen bezweckten Wettbewerbsbeschränkungen erübrigen sich damit umfangreiche Erwägungen zur Spürbarkeit, die häufig zu mehr als einer vertretbaren Lösung führen.

In der hier erörterten Rechtssache „ING Pensii“ hatte sich der EuGH im Zuge eines Vorabentscheidungsverfahrens erneut mit dem Verhältnis von Spürbarkeit und bezweckter Wettbewerbsbeschränkung zu befassen. Erfreulicherweise nutzte er diese Gelegenheit dazu, an die Entscheidung „Expedia“ anknüpfend noch mehr Klarheit zu schaffen.

 

Vorlagefrage an den EuGH und Ausgangsverfahren

Der Oberste Kassationshof Rumäniens hatte dem EuGH die folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt (Urteil, Rn. 25):

Kommt der konkreten, endgültigen Zahl der Kunden bei einer Praxis der Kundenaufteilung im Hinblick auf die Erfüllung der Voraussetzung einer wesentlichen Beeinträchtigung des Wettbewerbs im Sinne von Art. 101 Abs. 1 Buchst. c AEUV Bedeutung zu?

Hintergrund war eine Kundenaufteilung zwischen 14 Verwaltungsgesellschaften privater Pensionsfonds, darunter ING Pensii. Die Kundenaufteilung betraf allerdings nur jene Personen, die während der sog. Erstbeitrittsphase zu den privaten Pensionsfonds zwei Beitrittserklärungen unterschrieben hatten („Doppelmitglieder“), was vom einschlägigen rumänischen Gesetz so nicht vorgesehen war. Diese Personen wurden von den Verwaltungsgesellschaften in weiterer Folge gleichmäßig untereinander aufgeteilt. Aufgrund dieses als Kartellrechtsvertoß gewerteten Verhaltens wurden Geldbußen verhängt.

ING Pensii beschritt dagegen den Rechtsweg (Berufungsgericht Bukarest und Oberster Kassationshof Rumäniens) und machte dabei u.a. geltend, dass die in Rede stehende Absprache nur die Doppelmitglieder betroffen habe, die weniger als 1,5% des Marktes ausmachten. Dieses Vorbringen bewog den Obersten Kassationshof dazu, die oben genannte Frage dem EuGH zur Vorabentscheidung vorzulegen.

 

Antwort und Argumente des EuGH

Der EuGH versteht die Vorlagefrage in Anbetracht der tatsächlichen Umstände des Ausgangsverfahrens dahingehend (Urteil, Rn. 27), „dass sie darauf abzielt,

  • ob Art. 101 Abs. 1 AEUV dahin auszulegen ist, dass Vereinbarungen über die Aufteilung von Kunden wie die zwischen den privaten Pensionsfonds im Ausgangsverfahren geschlossenen eine Absprache mit wettbewerbswidrigem Zweck darstellen und
  • ob der Zahl der von diesen Vereinbarungen erfassten Kunden im Hinblick auf die Voraussetzung des Vorliegens einer Beeinträchtigung des Wettbewerbs im Binnenmarkt Bedeutung zukommt.“

Der EuGH ruft zunächst in Erinnerung (Urteil, Rn. 31 bis 33),

  • dass bestimmte Arten der Koordination zwischen Unternehmen schon ihrer Natur nach das gute Funktionieren des normalen Wettbewerbs hinreichend beeinträchtigen, um davon ausgehen zu können, dass die Prüfung ihrer Wirkungen nicht notwendig ist (der EuGH verweist auf sein Urteil CB/Kommission, C‑67/13 P, Rn. 49 und 50, und auf die dort genannte Rechtsprechung),
  • dass Vereinbarungen, die schon ihrem Wesen nach eine Aufteilung der Kunden von Dienstleistungen bezwecken, für das gute Funktionieren des normalen Wettbewerbs besonders schädliche Formen der Kollusion darstellen, weshalb Vereinbarungen über die Aufteilung der Kunden offensichtlich ebenso wie Preisvereinbarungen zur Kategorie der schwerwiegendsten Wettbewerbsbeschränkungen gehören (der EuGH verweist auf sein Urteil Kommission/Stichting Administratiekantoor Portielje, C‑440/11 P, Rn. 95 und 111), und
  • dass bei der Prüfung der Frage, ob eine Vereinbarung zwischen Unternehmen oder ein Beschluss einer Unternehmensvereinigung diese Merkmale aufweist, auf den Inhalt ihrer Bestimmungen, auf die mit ihr verfolgten Ziele sowie auf den wirtschaftlichen und rechtlichen Zusammenhang, in dem sie steht, abzustellen ist. Im Rahmen der Beurteilung dieses Zusammenhangs seien auch die Art der betroffenen Waren oder Dienstleistungen sowie die auf dem betreffenden Markt oder den betreffenden Märkten bestehenden tatsächlichen Bedingungen in Bezug auf ihre Funktionsweise und ihre Struktur zu berücksichtigen (der EuGH verweist wieder auf sein Urteil CB/Kommission, C‑67/13 P, Rn. 53, und auf die dort genannte Rechtsprechung).

Die Prüfung, ob die in Rede stehende Praxis eine Beschränkung des Wettbewerbs bezweckt, muss anhand dieser Kriterien erfolgen.

In weiterer Folge prüft der EuGH mit großer Sorgfalt, ob die vorgenommene Kundenaufteilung eine Beschränkung des Wettbewerbs bezweckt (Urteil, Rn. 35 bis 47). Schon dieser Umstand an sich ist bemerkenswert: Denn bei der Kundenaufteilung handelt es sich um eine sog. „Kernbeschränkung“, die in Art 101 Abs 1 lit c AEUV exemplarisch genannt wird. Dennoch hat der EuGH ihren wettbewerbsbeschränkenden Zweck gerade nicht unter bloßem Verweis auf die exemplarische Nennung in Art 101 Abs 1 lit c AEUV bejaht, sondern die in Rede stehende Praxis ausführlich auf ihren Zweck hin untersucht. Damit ruft der EuGH in Erinnerung, dass es keinen Automatismus gibt, wonach Kernbeschränkungen stets eine Beschränkung des Wettbewerbs bezwecken. Vielmehr muss immer eine sorgfältige Einzelfalluntersuchung erfolgen.

Beispielhaft erwähnt sei an dieser Stelle nur, dass der EuGH im Zuge dieser Prüfung etwa darauf verweist, dass bereits im einschlägigen rumänischen Gesetz vorgesehen war, „Doppelmitglieder“ (Personen, die zwei Pensionsfonds beigetreten waren) gemäß dem Zufallsprinzip auf alle Pensionsfonds zu verteilen (Urteil, Rn. 44). Dem waren die mit einer Geldbuße belegten Pensionsfonds zuvorgekommen, indem sie alle nicht am Kartell teilnehmenden Pensionsfonds von der Verteilung der „Doppelmitglieder“ ausgeschlossen (Urteil, Rn. 37) und die mit dem Zufallsprinzip verbundenen Risiken vermieden hatten.

Im Ergebnis bejahte der EuGH – wenig überraschend – den Charakter der in Rede stehenden Kundenaufteilung als bezweckte Wettbewerbsbeschränkung. Dabei betonte der EuGH insbesondere, dass der wettbewerbswidrige Zweck einer Kundenaufteilung nicht von der Anzahl der aufgeteilten Kunden abhängen könne, sondern nur vom Wortlaut und den objektiven Zielen dieser Vereinbarung im Licht des wirtschaftlichen und rechtlichen Zusammenhangs, in dem sie erfolgt ist (Urteil, Rn. 55). Für die Frage, ob eine Kundenaufteilung negative Auswirkungen auf dem betroffenen Markt haben kann, gelte dasselbe (Urteil, Rn. 55).

Der EuGH hat die Vorlagefrage daher verneint (Urteil, Rn. 56). Der Zahl der durch eine Vereinbarung aufgeteilten Kunden kommt bei der Prüfung einer wesentlichen Beeinträchtigung des Wettbewerbs keine Bedeutung zu.

Die Entscheidung ist insofern interessant und bemerkenswert, als der EuGH nicht nur bestätigt hat, dass die Zahl der aufgeteilten Kunden bei der Frage der Spürbarkeit keine Rolle spielt – dies folgt schon aus dem in der Rechtssache „Expedia“ bestätigten Grundsatz, dass bezweckte Wettbewerbsbeschränkungen stets spürbar sind -, sondern darüber hinaus aufgezeigt hat, dass die Zahl der aufgeteilten Kunden auch bei der Prüfung, ob eine automatisch zur Bejahung der Spürbarkeit führende bezweckte Wettbewerbsbeschränkung überhaupt vorliegt, nicht relevant ist.

Für die vertriebsrechtliche Praxis bedeutet dies, dass insbesondere im Fall von Kernbeschränkungen (Art 4 Vertikal-GVO), bei Nichtanwendbarkeit der Vertikal-GVO aber auch im Fall von anderen bezweckten Wettbewerbsbeschränkungen, eine geringe Zahl an von der Wettbewerbsbeschränkung betroffenen Personen (zB aufgeteilten Kunden) im Zuge der Verteidigung oder Rechtfertigung kaum nützlich ins Treffen geführt werden kann.

Nur der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass die an dieser Stelle bereits erörterte Entscheidung des OLG Celle vom 7.4.2016, 13 U 124/15 (Kart), „Rabattaktion“, in der von den oben dargelegten Grundsätzen abgegangen wurde, vor diesem Hintergrund umso weniger nachvollzogen werden kann. Die Rechtsprechung des EuGH zum Zusammenhang zwischen bezweckter Wettbewerbsbeschränkung und Spürbarkeit darf mittlerweile wohl als gefestigt angesehen werden. Auch die Europäische Kommission hat sich dieser Rechtsprechung in ihrer De-Minimis-Bekanntmachung (Nr. 13) angeschlossen.

 

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