Prestigecharakter der Ware rechtfertigt kein Totalverbot des Internetvertriebs – EuGH „Pierre Fabre“

EuGH 13.10.2011, Rs C-439/09 – „Pierre Fabre“

In allen Beiträgen dieses Blogs, die sich dem Thema „Internetvertrieb“ widmen, wird auf die grundlegende Entscheidung des EuGH in der Rs „Pierre Fabre“ Bezug genommen, so insbesondere auch in der ausführlichen Erörterung der 3 Rechtfertigungsmöglichkeiten für Drittplattformverbote im Selektivvertrieb.

Eine knappe, aber prägnante Analyse dieser Entscheidung des EuGH ist daher sinnvoll: Sie wird zum Verständnis dafür beitragen, wie der EuGH Beschränkungen des Online-Handels beurteilt.

 

 

Sachverhalt

Die Pierre Fabre Dermo-Cosmétique SAS vertreibt über ein qualitativ-selektives Vertriebssystem, das hauptsächlich aus Apotheken besteht, Kosmetika und Körperpflegeprodukte diverser Marken (Klorane, Ducray, Galénic und Avène).

In den Vertriebsverträgen mussten sich die zugelassenen Händler (Apotheken) u.a. verpflichten,

  • für die ununterbrochene Anwesenheit einer zur Beratung über die Vertragsprodukte besonders qualifizierten Person zu sorgen und
  • die Vertragsprodukte ausschließlich in einer materialisierten und individualisierten Verkaufsstelle abzugeben.

Damit wurden Verkaufsformen über das Internet de facto ausgeschlossen.

 

Verfahrensverlauf und Hintergrund

Pierre Fabre wurde von der französischen Wettbewerbsbehörde zu einer Geldbuße verurteilt. Die Wettbewerbsbehörde sah im De-Facto-Ausschluss des Internetverkaufs eine bezweckte Wettbewerbsbeschränkung, die als Kernbeschränkung auch nicht freistellungsfähig sei. Dagegen erhob Pierre Fabre einen Rechtsbehelf an den Cour d’appel de Paris. Dieser legte die Rechtssache dem EuGH zur Vorabentscheidung vor.

Das Verfahren vor dem EuGH war also ein Vorabentscheidungsverfahren. Der Cour d’appel de Paris stellte folgende Frage (Urteil, Rn 31):

Stellt ein den zugelassenen Vertriebshändlern im Rahmen eines selektiven Vertriebsnetzes auferlegtes allgemeines und absolutes Verbot, die Vertragsprodukte über das Internet an Endbenutzer zu verkaufen, tatsächlich eine Kernbeschränkung und eine bezweckte Beschränkung des Wettbewerbs im Sinne von Art 81 Abs 1 EG (Art 101 Abs 1 AEUV) dar, die nicht unter die Gruppenfreistellung nach der Verordnung Nr. 2790/1999 fällt, aber möglicherweise in den Genuss einer Einzelfreistellung gemäß Art 81 Abs 3 EG (Art 101 Abs 3 AEUV) kommen kann?

Der EuGH verwies darauf, dass die Rechtsvorschriften, auf die der Cour d’appel de Paris Bezug nimmt, den Begriff der „Kernbeschränkung“ nicht kennen (Urteil, Rn 32). Die Vorlagefrage sei daher so zu verstehen, dass sie darauf abziele,

  1. ob erstens die im Ausgangsrechtsstreit in Rede stehende Vertragsklausel eine „bezweckte“ Wettbewerbsbeschränkung im Sinne von Art 101 Abs 1 AEUV darstellt,
  2. ob zweitens eine eine solche Klausel enthaltende selektive Vertriebsvereinbarung – sollte sie in den Anwendungsbereich von Art 101 Abs 1 AEUV fallen – in den Genuss der mit der Verordnung Nr. 2790/1999 eingeführten Gruppenfreistellung kommen kann und
  3. ob drittens, falls die Gruppenfreistellung nicht anwendbar sein sollte, die besagte Vereinbarung gleichwohl in den Genuss der Legalausnahme in Art 101 Abs 3 AEUV kommen kann (Urteil, Rn 33).

 

Rechtfertigung der Wettbewerbsbeschränkung durch Pierre Fabre

Laut Pierre Fabre seien die beanstandeten Vertragsbestimmungen notwendig, damit der Kunde unter allen Umständen den auf einer direkten Untersuchung seiner Haut, Haare oder Kopfhaut fundierten Rat eines Fachmanns einholen könne (Urteil, Rn 17).

Außerdem beuge das vertragliche Verbot des Verkaufs über das Internet den Risiken der Fälschung und des Trittbrettfahrens unter zugelassenen Apotheken vor. Nur so sei gewährleistet, dass die Beratung in allen zugelassenen Apotheken erbracht werde und dass jede Apotheke die dafür anfallenden Kosten trage (Urteil, Rn 23).

Schließlich führt Pierre Fabre die Notwendigkeit ins Treffen, den Prestigecharakter der betroffenen Produkte zu schützen (Urteil, Rn 45).

 

Entscheidung und Erwägungen des EuGH

Den EuGH haben die von Pierre Fabre vorgebrachten Argumente nicht überzeugt:

Zunächst hält der EuGH fest, dass eine Vertragklausel, die de facto sämtliche Vertriebsformen ausschließt, bei denen der Kunde keinen Ortswechsel vornehmen muss, geeignet ist, den Wettbewerb einzuschränken. Denn sie schränke die Möglichkeit erheblich ein, dass ein zugelassener Vertragshändler die Vertragsprodukte an Kunden außerhalb seines Tätigkeitsgebiets verkauft (Urteil, Rn 38).

Außerdem verweist der EuGH auf seine Rechtsprechung „AEG-Telefunken/Kommission“ (EuGH 25.10.1983, Rs C-107/82, und zwar Rn 33), wonach Vereinbarungen, die ein selektives Vertriebssystem begründen, ohne dass dafür eine Rechtfertigung besteht, immer als bezweckte Wettbewerbsbeschränkung zu betrachten sind (Urteil, Rn 39). Ein selektives Vertriebssystem ist aber bekanntlich gerechtfertigt und fällt nicht unter das Kartellverbot nach Art 101 Abs 1 AEUV, wenn die Auswahl der Wiederverkäufer nach objektiven Gesichtspunkten rein qualitativer Art erfolgt, die einheitlich festgelegt und ohne Diskriminierung angewendet werden, sofern die Eigenschaften des fraglichen Erzeugnisses zur Wahrung seiner Qualität und zur Gewährleistung seines richtigen Gebrauchs ein solches Vertriebsnetz erfordern und sofern die festgelegten Kriterien schließlich nicht über das erforderliche Maß hinausgehen (EuGH 25.10.1977, Rs C-26/76 – „Metro SB-Großmärkte/Kommission“, Rn 20; EuGH 11.12.1980, Rs C-31/80 – „L’Oréal“, Rn 15 f).

Im gegenständlichen Fall war unstrittig, dass Pierre Fabre die Vertragshändler nach objektiven Gesichtspunkten auswählte, die einheitlich festgelegt waren. Allerdings überschritten die festgelegten Kriterien das erforderliche Ausmaß:

  • Pierre Fabre vertreibt keine verschreibungspflichtigen Arzneimittel, weshalb die Argumente zur individuellen Beratung des Kunden zum Schutz vor einer falschen Anwendung der Produkte nicht greifen können (Urteil, Rn 44; unter Verweis auf EuGH 11.12.2003, C-322/01 – „Deutscher Apothekerverband“, Rn 106, 107 und 112).
  • Das von Pierre Fabre außerdem vorgebrachte Ziel, den Prestigecharakter der Produkte zu schützen, könne kein legitimes Ziel zur Beschränkung des Wettbewerbs sein und könne es daher nicht rechtfertigen, dass eine Vertragsklausel, mit der ein solches Ziel verfolgt wird, nicht unter Art 101 Abs 1 AEUV fällt (Urteil, Rn 46, ohne weitere Begründung).
  • Auf das von Pierre Fabre außerdem diskutierte Trittbrettfahrerproblem ging der EuGH nicht mehr ein.

 

Würdigung

Der soeben beschriebene zweite Punkt, nämlich die Entgegnung des EuGH auf das Argument von Pierre Fabre, den Prestigecharakter seiner Ware schützen zu müssen, ist mit früher ergangenen Entscheidungen nicht in Einklang zu bringen, vgl. etwa EuGH 23.4.2009, Rs C-59/08 – „Copad/Dior“, Rn 29 ff; EuG 12.12.1996, Rs T-19/92 – „Leclerc/Kommission“, Rn 114 ff; BGH, Urt. v. 12.5.1998, KZR 23/96 – Depotkosmetik“.

Insofern ist es bedauerlich, dass der EuGH das Vorbringen von Pierre Fabre mit einem einzigen Satz ohne weitere Fundstelle vom Tisch wischt. Im Sinne einer effektiven Kartellrechtspraxis wäre es wünschenswert gewesen, hätte der EuGH die Aussage selbst präzisiert und sich zudem dazu geäußert, wie diese Aussage mit den genannten  Entscheidungen in Einklang zu bringen ist bzw. ob diese Entscheidungen und die darin getroffenen Erwägungen nun als hinfällig zu betrachten sind.

Da nähere Erläuterungen aber unterblieben sind, bleibt dem Kartellrechtsanwender nur die pauschale Aussage des EuGH, wonach der Schutz des Prestigecharakters eines Produkts kein legitimes Ziel zur Beschränkung des Wettbewerbs sein kann. Die Pauschalität dieser Aussage und ihre Unvereinbarkeit mit bisheriger Rechtsprechung hat dann auch das OLG Frankfurt a.M. in der Rechtssache „Coty“ dazu bewogen, dem EuGH diese Rechtssache zur Vorabentscheidung vorzulegen.

Schade ist außerdem, dass der EuGH das Trittbrettfahrerproblem nicht thematisiert hat. Von Interesse wäre insbesondere der Zugang des EuGH zum Phänomen der sog. „Hybrid-Händler“, die von einem kleinen, unbedeutenden Ladengeschäft aus einen großen Online-Shop betreiben und die ihr Ladengeschäft überhaupt nur eingerichtet haben, um Zugang zum Vertriebsnetz zu erhalten – den Betrieb eines Ladengeschäfts vorzuschreiben, ist ja unbestritten gerechtfertigt (Leitlinien der Kommission für vertikale Beschränkungen, Rn 52 und 54).

 

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